Stell Dir vor, Du möchtest in einen Laden, aber die Tür ist viel zu schmal. Oder die Regale sind nur ganz oben unter der Decke befüllt. Oder die Preisschilder sind in Sonderzeichen (∏◊Þζ¤Ξ⌋∇) geschrieben. Unvorstellbar? Für Millionen von Menschen ist das Alltag – vor allem online. Die digitale Welt ist voller Hürden, die wir oft gar nicht bemerken, weil sie für die eigene Bedienung keine Barriere darstellen. Aber für Menschen mit Behinderungen sind sie allgegenwärtig.
Barrierefreiheit im digitalen Raum ist daher nicht nur eine nette Zugabe, sondern ein Muss. Und das gilt nicht nur, weil ab 2025 das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) in Deutschland umgesetzt wird. Sondern weil es eine ethische Verantwortung ist, digitale Angebote so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind.
Wenn man über digitale Barrierefreiheit spricht, denken die meisten zuerst an Schriftgrößen und Farbkontraste. Aber Barrierefreiheit im Web ist viel facettenreicher – es geht um viel mehr als “nur” um Sehbehinderungen. Barrierefreiheit im Web umfasst alle möglichen Einschränkungen: von visuellen Beeinträchtigungen über Hörprobleme bis hin zu motorischen und kognitiven Einschränkungen.
Werfen wir nur einen kurzen Blick auf die Zahlen: In Deutschland gibt es über 8 Millionen Menschen mit einem Schwerbehindertenausweis (Quelle: Statistisches Bundesamt – Schwerbehindertenstatistik) und über 6 Millionen funktionale Analphabet·innen (Quelle: leo. – Level-One Studie). Diese Zahlen zeigen, dass Barrierefreiheit nicht nur eine Nischenanforderung ist, sondern ein Thema, das Millionen von Menschen betrifft.
Obwohl sich ein Großteil der Forschung auf Sehbehinderungen konzentriert, sollten andere Einschränkungen nicht vernachlässigt werden. Zum Beispiel gibt es Simulationen für Farbfehlsichtigkeit oder Screenreader für blinde Menschen, aber was ist mit Menschen, die motorische Schwierigkeiten haben und daher keine Maus bedienen können? Oder kognitiv eingeschränkte Menschen, die komplexe Texte oder verschachtelte Navigationsstrukturen nicht verstehen?
Barrierefreiheit bedeutet, all diese Aspekte zu berücksichtigen und digitale Angebote so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind – ungeachtet ihrer körperlichen, geistigen oder technischen Möglichkeiten.
In Deutschland ist die Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) das gültige Regelwerk für barrierefreie digitale Angebote öffentlicher Stellen. Sie basiert auf den WCAG und der europäischen Norm EN 301 549. Diese Normen legen fest, wie Barrierefreiheit in der digitalen Welt aussehen sollte, von Farbkontrasten bis zur Bedienung durch Screenreader.
Ein Meilenstein in Sachen privatwirtschaftlicher Barrierefreiheit ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), das im Juni 2025 in Kraft tritt. Es setzt die Richtlinien der EU, speziell des European Accessibility Acts (EAA), in Deutschland um. Das Gesetz betrifft nicht nur den Online-Handel, sondern auch Hardware, Software und Dienstleistungen, z. B. den überregionalen Personenverkehr und Bankdienstleistungen.
Das BFSG ist nicht nur ein weiterer Paragrafendschungel, den es zu durchforsten gilt. Es verpflichtet Unternehmen, ihre digitalen Angebote so zu gestalten, dass sie für alle zugänglich sind. Das Gesetz ist ein klares Signal dafür, dass Barrierefreiheit kein optionales Feature mehr ist, sondern ein Muss.
Hier kommen die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) ins Spiel. Diese internationalen Standards bieten klare Richtlinien, für die Gestaltung barrierefreier Websites.
Die WCAG-Guidelines basieren auf vier Prinzipien: Wahrnehmbarkeit, Bedienbarkeit, Verständlichkeit und Robustheit. Das bedeutet unter anderem, dass Inhalte für alle Sinne zugänglich sein müssen, dass sie einfach zu bedienen und zu verstehen sein müssen und dass sie auf verschiedenen Geräten und im Zusammenspiel mit unterschiedlichen Technologien funktionieren müssen.
Diese Guidelines sind kein starres Regelwerk, sondern eine flexible Anleitung, die auf die unterschiedlichsten digitalen Angebote angewendet werden kann – von Websites über Apps bis hin zu Software.
Digitale Barrierefreiheit bedeutet nicht, dass man Kompromisse bei der Usability machen muss. Im Gegenteil: Eine gut durchdachte, barrierefreie Website ist in der Regel auch für nicht-eingeschränkte Nutzer·innen deutlich besser bedienbar. Barrierefreiheit und User Experience (UX) sind keine Gegensätze, sondern ergänzen sich perfekt ❤️
Es reicht jedoch nicht aus, sich auf Guidelines und Normen zu verlassen. Nur weil eine Website formal barrierefrei ist, heißt das nicht, dass sie auch wirklich benutzerfreundlich ist. Hier kommt der UX-Test ins Spiel – und zwar nicht mit einer allgemeinen Testgruppe, sondern mit den Menschen, die tatsächlich mit Barrieren im Alltag konfrontiert sind.
Ein echter Barrierefreiheitstest sollte tatsächliche Nutzende einbeziehen, die von den jeweiligen (oder unterschiedlichen?) Einschränkungen betroffen sind. Ihre Erfahrungen und Rückmeldungen sind unerlässlich, um sicherzustellen, dass die digitale Lösung nicht nur theoretisch barrierefrei ist, sondern auch in der Praxis funktioniert. Das ist der Moment, in dem Barrierefreiheit und UX-Design aufeinandertreffen und gemeinsam ein wirklich inklusives Erlebnis schaffen.
Barrierefreiheit ist kein Hindernis, sondern eine Chance!
Eine Chance, neue Zielgruppen zu erreichen und eine verbesserte User Experience anzubieten. Es geht nicht nur darum, Gesetze zu erfüllen, sondern Verantwortung zu übernehmen und die digitale Welt für alle zugänglich zu machen.
Über die Chancen von digitaler Barrierefreiheit haben bei unseren HOLY UX Meetups bereits unterschiedliche Experten gesprochen und wir empfehlen euch gerne die Aufzeichnung der beiden Vorträge 🎤▶️
Barrierefreiheit: Mensch vs. Konformität
🍿 Nico Maikowski von Pfennigparade Business. Inklusiv. 🍿
@ HOLY UX München
Ohne Hürden: Erfolgreich zur digitalen Barrierefreiheit 💪
🍿 Daniel Diener und Marcel Bertram von A11YPLAN. 🍿
@HOLY UX Hamburg
🤓 Wenn Du Dich jetzt noch intensiver mit digitaler Barrierefreiheit auseinandersetzen möchtest empfehlen wir Dir unsere interaktive Trendmap zu dem Thema auf LinkedIn.
Wenn du Fragen oder sogar ein aktuelles Projekt zum Thema Barrierefreiheit hast, kannst Du auch an unserem unverbindlichen Lunch&Learn Format teilnehmen: https://www.skopos-nova.de/barrierefreiheit#formular
Oder melde Dich unter academy@holyux.de . Wir freuen uns auf den Austausch!
Autorin dieses Blogartikels ist
Caroline Scholtes
HOLY UX Managerin bei SKOPOS NOVA
https://www.linkedin.com/in/caroline-scholtes-783645164/
Vielen Dank für Deinen Input!
18.09.2024